WAS MACHT BALL SPIELEN SO GEFÄHRLICH? – DER VERSUCH EINER ERKLÄRUNG

Originalposting vom März 2014 aus immer aktuellem Anlass zur Erinnerung auch wieder im Frühjahr 2015

Ein Artikel von Gwen Jäger und Sandra C. Maschke

(Die benannten Bildbeispiele finden sich im Artikel selbst, hier bzw. am Ende des Textes zum Download erhältlich)

Das worst case scenario

Ein Halter wirft Paul, seinem Labbimix, einen Ball auf der Hundespielwiese. Der Hund jagt dem Objekt hinterher, Luna, ein Toy Pudel, erschrickt sich, weil ein großer Hund auf sie zugewalzt kommt. Sie schreit auf und rennt zu ihrer Besitzerin. Paul, mit dem auch viel mit einem Quietscheball gespielt wird, hört das vermeintliche Quietschen, „wittert“ ein noch besseres Spielzeug und wechselt die Richtung. Die Besitzerin sieht Lunas Panik und, dass Paul ihr hinterher rennt, und nimmt sie schnell auf den Arm. Noch in der Bewegung springt Paul die Besitzerin an, reißt ihr Luna aus den Händen, rennt mit ihr weg und schüttelt sie, bis sie keinen Ton mehr von sich gibt. Luna stirbt an Ort und Stelle.

Der Versuch einer Erklärung

Die Handlung, die in unserem fiktiven, aber nicht unwahrscheinlichen Beispiel stattgefunden hat, ist verhaltensbiologisch in verschiedene Bereiche aufzuteilen. Die Tötung selbst ist eine unglückliche Verkettung der Umstände. Es handelt sich um ein fehlgeleitetes Beutefangverhalten. Paul ist so auf das Spiel ohne Regeln mit dem (Quietsche-)Ball konditioniert, dass er im Rausch nicht mehr wahrnimmt, dass Luna eine Artgenossin ist. Lunas Besitzerin verstärkt diese Annahme dadurch, dass sie sie auf den Arm nehmen möchte, was ganz menschlich ist, denn unser Fürsorgeverhalten sagt uns, dass wir schreiende Kinder beruhigen können, wenn wir sie auf den Arm nehmen und trösten.

Eine innerartliche Aggression hat hier in jedem Fall nicht stattgefunden. In einem aggressiven Zusammenhang wie bei der Ressourcenverteidigung (Ressource = Ball) würde eine Kommunikation durch Knurren, Zähne zeigen, Bürste stellen usw. zwischen den Hunden stattfinden.

Ganz wichtig: Das Hochnehmen eines kleinen Hundes auf den Arm des Menschen macht den Kleinen zur Beute und erweckt bei Hunden immer ein Beutefangverhalten; es reizt zum Greifen nach der vermeintlichen „Beute“, dem kleinen Hund. Nur Hunde, die Impulskontrolle kennen, können der Versuchung widerstehen, den hochnehmenden Menschen nicht anzuspringen.

Aber auch im Spiel zwischen einem großen und einem kleinen Hund wie im Bild rechts ist es wichtig, dass gerade der große Hund nicht übermütig wird und am besten von kleinauf das Spielen mit viel Kleineren gelernt hat. In diesem Beispiel agieren 60 kg gegen 7 kg; eine tollpatschige Bewegung mit der Pfote oder ein Umschalten in den Jagdmodus können entsetzliche Folgen haben.

Um dies zu erklären, müssen wir auch teilweise auf biologische Hintergründe eingehen. Wie ihr Stammvater, der Wolf, sind Hunde Beutegreifer und für schnell bewegliche Reize sehr empfänglich. Das Hundeauge ist nicht in der Lage, so wie das menschliche Auge still stehende Objekte in der Ferne zu erkennen. Gerade bei so genannten Sichtjägern reagiert das Hundeauge nur auf Bewegungsreize.

Die Jagdsequenz ist eine Handlungskette aus acht einzelnen Verhaltensweisen, die aufeinander folgen:

SUCHEN – AUFSPÜREN – ORTEN – FIXIEREN/ANZEIGEN – HETZEN – GREIFEN – TÖTEN – FRESSEN

1. SUCHEN: Hier muss doch irgendwo etwas sein…
2. AUFSPÜREN: Ich glaube, ich habe da etwas gerochen, gehört, gesehen…
3. ORTEN: Oh ja, da ist es!
4. FIXIEREN/ANZEIGEN/ANSCHLEICHEN: Jetzt bloß nicht bewegen.
5. HETZEN: Attacke!
6. GREIFEN: Hab’ ich dich.
7. TÖTEN: Schütteln, bis es knackt.
8. FRESSEN: Das habe ich mir verdient…

Prinzipiell gilt, dass alle Hunde Jäger sind, und Jagen nicht gleich „Hund hetzt direkt hinter dem Wild her!“ bedeutet. Jagen beginnt schon damit, dass eine Wildspur aufgenommen und verfolgt wird oder ein „Beuteobjekt“ auf Distanz „fixiert“ wird. Jagen hat jedoch nicht unbedingt immer das Endziel des „Killens“, denn:

Durch die Zucht und die gezielte Auslese des Menschen sind Spezialisten unter den Hunden entstanden, die einzelne Abschnitte dieser Handlungskette perfektioniert haben. Während bei Windhunden 1 und 2 für die Auslese nicht interessant waren, sind bei Hütehunden die Sequenzen 6 bis 8 „weg“ gezüchtet worden. Der typische Retriever ist der Greifer, während ein Dackel oder ein Terrier für das schnelle Greifen und Töten geschätzt wird. Wird ein Hund gemäß seinen Anlagen aus dieser Hand- lungskette von kleinauf gefördert, zeigt er ganz sicher die gewünschten rasse- bzw. typusspezifischen Talente mit ihren Komponenten (das „weiche Maul“ beim Retriever, „the eye“ beim Border Collie, das Packen und blitzartige Totschütteln beim Terrier etc.).

Die Endhandlung des Jagdverhaltens: Totschütteln der Beute, was man auch oft im Objekt bezogenen Spiel z.B. bei Plüschtieren und Spieltauen beobachten kann.

Wenn wir den Hund mit z.B. einem Ball bedienen, bleiben psychische und physische Schäden nicht aus. Warum?

Der Hund als soziales Lebewesen interessiert sich im Laufe des Ballspielens immer weniger für uns und seine Artgenossen. Der Mensch macht sich für seinen Hund zu einem Objekt, das ihn mit dem Ball bedient, und degradiert sich somit zur Ballwurfmaschine. Artgenossen, mit denen hund kommunizieren müsste, geben ihm nicht dieselbe Befriedigung wie ein beliebig austauschbares Objekt (Ball, Frisbee, Stock, Stein, Tau etc.).

Beim monotonen Hetzen und Fangen des Balles findet im Hund der gleiche biologische Ablauf wie beim Jagdverhalten statt: der Ball wird zur Beute. Damit gehen Hormonausschüttungen einher, die den Hund in einen Rauschzustand versetzen. So ist allein das Hetzen des Wurfgegenstandes ein selbst belohnendes Verhalten. Eben war es noch ein Ball, aber ein schnell weg ren- nendes Beutetier gibt denselben Kick.

Der Blick des Border Collies auf dem linken Bild zeigt das Fixieren der Beute. Der Hund steckt hier schon in einem Teufelskreis: Er braucht ein schnell fliegendes Objekt als Auslöser für seinen Drogenkick (die Ausschüttung der Glückshormone, die er in dieser Konzentration nur bei Wurfspielen bekommt). Wenn wir dem Hund zigmal und immer wieder einen Wurfgegenstand schmeißen, wird er zum „Balljunkie“.

„Los, wirf den Ball!“ Auf dem Bild links zeigt die Hündin das für die Jagd typische Vorstehen (Heben der Pfote), bevor es zum Hetzen der Beute kommt. Der stiere, unnatürlich glückliche Blick verrät den Rausch, in dem sie sich befindet, genau wie der etwas zu weit geöffnete Mund. Sie nimmt dank des körpereigenen Drogencocktails weder ihre Umwelt, noch ihre Artgenossen wahr. Selbst reale Beutetiere werden ignoriert, weil die Ausbeute hier noch größer ist, die Befriedigung viel schneller erreicht wird. Ihre Bezugsperson tritt nur noch als Bedienstete in Erscheinung, die das heiß ersehnte Objekt wirft. Mit Fürsorge oder Führung oder gar Liebe wird sie nicht verbunden. Ein gesundes Verhältnis zwischen Mensch und Hund?

Das Verursachen von physischen Schäden

Die Oberfläche eines Tennisballs ist gleichzusetzen mit Schleifpapier (Zahnschäden). Durch Wettbewerb übersteigerte Bewegungen wie hier im Bild, aber auch wegen eines unnatürlichen Bewegungsablaufs (ein Ball springt und wendet sich anders als z.B. ein Kaninchen) kommt es zu extremen Stopps und Seitwärtsbewegungen, die zu Verletzungen im Bewegungsapparat (vornehmlich Ellenbogen und Hüfte) führen können.

Wie geht es besser?

In der Natur sind Jagdsequenzen an zahlreiche Rituale, Bedingungen und Regeln gebunden. Wir sollten für unsere Hunde Beutespiele kreieren, die den Hund zwar stimulieren, ihn aber nicht aufputschen. Beutespiele, bei denen der Hund spieljagen darf, aber gleichzeitig und ohne Zwang Warten und Ablassen lernt (wie z.B. strukturiertes Apportiertraining), setzen das soziale Ereignis und nicht die Jagd nach dem Ball in den Mittelpunkt. Anders sieht es in den beiden unteren Bildern aus: der Hund erhält ein Stichwort wie hier das Abliegen und schaut liegend dabei zu, wie das Apportel weggeworfen oder versteckt wird. Erst auf Geheiß des

Halters „darf“ er aufstehen und das Apportel zurück zum Halter bringen. Das ist eine Art des Jagdersatzes, den wir unseren Hunden anbieten können und der ein gemeinsames „Arbeiten“ wie bei der Jagd hergibt. Nebenbei lernt der Hund Impulskontrolle und erhöht seine Frustrationstoleranz.

Auch andere Jagdersatzspiele (Fährtensuche, Maintrailing, Geruchsunterscheidung, Gegenstandssuche etc.) sind hervorragende Möglichkeiten, einen Hund auszulasten.

Ihnen allen ist gemein:

  • dass sie eine Struktur haben,
  • dass sie einen guten Grundgehorsam vom Hund abverlangen,
  • dass sie jagdambitionierte Hunde vom Jagen abhalten können,
  • dass sie die Bindung zwischen Mensch und Hund stärken und
  • dass sie natürlich NICHT auf einem Drogenabhängigkeitsverhältnis basieren.

Jagdersatzspiele sind toll, aber sie gehören nicht auf Hundefreilaufflächen oder Hundespielwiesen, weil sie die Konkurrenz fördern.

Wenn Ihr mit Euren Hunden auf die Hundespielwiese kommt, lasst sie doch das machen, was wir Menschen ihnen nicht bieten können: das Spiel unter Artgenossen!

DIESER ARTIKEL DARF GERNE UNTER BERÜCKSICHTIGUNG DES URHEBERRECHTS DER AUTORINNEN GETEILT WERDEN.

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